Der Enkelsprung: Fotografen-Haushalt mit Hund, Olmütz, Frühjahr 1942

Der Enkelsprung: Fotografen-Haushalt mit Hund, Olmütz, Frühjahr 1942
Meine Grußmutter väterlicherseits: Anna Polzer, geborene Karger, Ehefrau des Fotografenmeisters Karl Polzer, in Olmütz, ca. 1939 – Aufnahme Familienarchiv Joachim Polzer

Meine Großmutter väterlicherseits wurde als Anna Karger am 23. März 1899 in Olmütz (aka Olomouc, Mähren), Ortsteil Neugasse (aka Nová Ulice), in eine Unternehmerfamilie für die Lebensmittelversorgung der Stadt geboren. Ihr Vater, Rudolf Karger, geboren am 07. September 1860, hatte durch Obst- und Gemüsehandel als Markthändler Hausbesitz erwerben können. Spätere amtliche Dokumente belegen "Hausbesitzer" als seine Berufsbezeichnung. Sein Vater, David Karger, war Mehlhändler, ebenfalls in Olmütz-Neugasse. Sein Geburtsjahr dürfte zwischen 1820 und 1830 gelegen haben. Die Ehefrau von David Karger hieß Genovefe Coufolpus; ihr Vater war ein Franz Coufolpus, von der Hanse her stammend. Ich vermute hier hugenottischen Einfluß. Das Geburtsjahr von Franz Coufolpus dürfte zwischen 1780 und 1800 gelegen haben. Die hugenottische Emigration aus Frankreich, auch nach Hamburg und Bremen, fand im Zeitraum von 1670 bis 1720, insbesondere um das Jahr 1685, statt. Neben den kulturellen Einflüssen aus k & k Wien und Brünn, Slovakien und Italien in meiner Familienlinie mütterlicherseits, findet sich hier in der väterlichen Familienlinie französisch-hugenottischer Einfluß.

Die Mutter meiner Großmutter Anna Karger hieß Ludmilla und wurde am 09. August 1871 in Olmütz-Neugasse (aka Olomouc Nová Ulice) als Tochter des Alois Polzer und seiner Frau Maria Polzer, geborene Hausner, geboren. Geburtsjahr der beiden zirka 1840. Der Vater der Maria Hausner war ein Josef Hausner, ebenfalls aus Olmütz-Neugasse (aka Olomouc Nová Ulice). Beim Geburtsjahr von Josef Hausner dürften wir kurz nach 1800 angelangt sein. Meine Olmützer Familie war sehr in und mit dieser Region verwurzelt.

Meine Großmutter Anna Karger heiratete am 05. Juni 1922 den Olmützer Fotografenmeister Karl Polzer, geboren 1890, der im Januar desselben Jahres seine Meisterprüfung als Fotograf bei der Handwerkskammer Olmütz erfolgreich absolviert hatte. Im März 1922 dann die Eröffnung seines "Foto-Atelier Raphael" in der Olmützer Hans-Knirsch-Str. 17. — Im Mai 1922 wird Anna Polzer schwanger, im Juni wurde geheiratet. Das Wohn- und Geschäftshaus Hans-Knirsch-Str. 17 wird zum Familienhort. Im Feburar 1923 wird deren erstgeborener Sohn Kurt Polzer geboren, im Februar 1926 mein Vater Erhard Polzer.

Inwieweit es zwischen Alois Polzer und Karl Polzer mehr nur eine Namensverwandtschaft gab, habe ich bis heute nicht herausfinden können. Die "Polzers" waren eigentlich "Bolzers": Die ethymologisch-geografische Namensherkunft deutet auf Bolzenschmiede aus der Steiermark hin, die mit den Wanderungsbewegungen sich in größerer Zahl im Sudetenland niederließen, wo man den Namen öfters fand, und wo durch die europäische Konsonanten-Verschiebung das "B" zum "P" wurde, vergleiche "Gebäck" und "Gepäck". Nicht umsonst heißt es im Österreichischen "Mehlspeise".

Anna Polzer, geb. Karger, mit gerettetem Terrier Schucki, Olmütz, Frühjahr 1942 – Aufnahme: Familienarchiv Joachim Polzer

Im Alter von 16 Jahren fand mein Vater Erhard, im Frühjahr 1942, einen Terrier im Umfeld einer Wirthaus-Gaststätte in Olmütz, bei dem sich die Gasthaus-Einkehrer einen Witz daraus machten, dem Terrier Bier zu verköstigen, was den durstigen und hungrigen Hund blau und lustig machte. Das arme Tier wurde durch meinen Vater gerettet und fand seine neue Heimat im Wohn- und Geschäftshaus des Foto-Atelier Raphael in der Hans-Knirsch-Str. 17. Sie haben ihn Schnucki genannt.

Zur Stadtgeschichte von Olmütz gibt die Wikipedia einen Überblick, von mir an dieser Stelle stark verkürzt und paraphrasiert wiedergegeben:
Olmütz war bis ins 17. Jahrhundert das historische Zentrum Mährens. Heute ist die Stadt ein Handels-, Kultur- und Verwaltungszentrum. Olmütz ist mit heute etwas über 100.000 Einwohnern der sechstgrößte Ort Tschechiens.
Ende des 2. Jahrhunderts befand sich hier ein römisches Heerlager, jenseits der Donau das nördlichste bekannte in Mitteleuropa. Bis ins 5. Jahrhundert gab es eine germanische Besiedelung. Im späten 7. Jahrhundert entstand eine erste slawische Siedlung im heutigen Ortsteil Povel. Um 830 wurde diese zerstört. Es entstand eine neue Burg auf dem Petersberg (Předhrad), die nach ihrer Größe vermutlich zu den wichtigen Burgen des Mährerreiches zählte. Im 9. Jahrhundert wurden drei Kirchen gebaut.
Olmütz wurde im Jahr 1017 erstmals schriftlich erwähnt, als Mähren Teil des böhmischen Staates der Přemysliden wurde. Im Jahr 1060 zählt die Siedlung 10.300 Einwohner.
Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Stadt 1642 von den Schweden eingenommen und acht Jahre okkupiert. Am 26. Dezember 1741 wurde die Stadt von den Preußen im Ersten Schlesischen Krieg eingenommen. Nach diesem Ereignis wurden die Festungsanlagen umfangreich ausgebaut. Einer zweiten Belagerung durch die Preußen im Jahre 1758 hielt die neue Festungsanlage stand. 1777 wurde das Bistum Olmütz zum Erzbistum erhoben.
1841 erhielt die Stadt einen Eisenbahnanschluss. Mitte 1845 wurde die Eisenbahn von Olmütz nach Prag in Betrieb genommen.
Im Jahr 1848 beherbergte das Schloss des Erzbischofs den wegen der Revolution in Wien hierher geflohenen kaiserlichen Hof. Kaiser Ferdinand I. übertrug hier am 2. Dezember 1848 dem achtzehnjährigen Franz Joseph I. die Regierung.
Am 29. November 1850 wurde in Olmütz durch die Olmützer Punktation (auch „Olmützer Vertrag“ genannt) zwischen Preußen, Österreich und Russland der Deutsche Bund unter österreichischer Führung wiederhergestellt. 1886 wurde dann der Festungsstatus aufgehoben, Olmütz erhielt ein Stadtstatut als Königliche Hauptstadt.
Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 und der Gründung der Tschechoslowakei kamen die tschechischen Stadtbürger in die Mehrzahl, was vor allem auf den Zuzug von Tschechen, den Wegzug von Deutschen aber auch auf die Eingemeindung von umliegenden Gemeinden mit zum Teil tschechischer Mehrheit.
Am 15. März 1939 wurde die Stadt, wie auch die übrigen Sudetenland-Gebiete des am selben Tag vom Deutschen Reich errichteten Protektorats Böhmen und Mähren, von der Wehrmacht besetzt.
Die Olmützer Synagoge wurde von 1895 bis 1897 erbaut. In der Nacht vom 15. auf den 16. März 1939, nach der Besetzung des Landes durch die Wehrmacht, wurde die Synagoge durch Brandstiftung zerstört. Gleichzeitig wurden etwa 800 Juden festgenommen und später in das Konzentrationslager Dachau deportiert.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden 3.489 jüdische Stadt-Bewohner in vier Transporten, am 26. und 30. Juni 1942, am 4. Juli 1942 und am 7. März 1945 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nur 285 Juden der Stadtbevölkerung überlebten.
Anna Polzer, geb. Karger, ca. 1928, oval beschnittener sw-Abzug mit Lasurfarben-Kolorierung, entnommen aus Familien-Foto-Tableau. – Aufnahme: Familienarchiv Joachim Polzer

Am 11. Mai 1940 erhielten Anna und Karl Polzer jeweils einen Staatsangehörigkeitsausweis des Deutschen Reiches zum Nachweis der deutschen Staatsangehörigkeit, ausgestellt vom Oberlandrat in Olmütz. Damit wurden ihre Söhne Kurt und Erhard wehrpflichtig für die Deutsche Wehrmacht.

Von den Deportationen der jüdischen Nachbarn und jüdischen Stadtbevölkerung, insbesondere im Juni und Juli 1942, wird meine Olmützer Familie – so ist meine starke Vermutung – Notiz genommen haben:

Erstens werden sich die Zusammensetzung und die Wünsche der Laufkundschaft des "Foto-Ateliers Raphael" nach den Deportationen sicht- und erfahrbar verändert haben, zumal Olmütz als Garnisionsstadt im Zweiten Weltkrieg viele junge Solaten in ihren neuen Uniformen zur Porträtaufnahme ins Foto-Studio gebracht haben dürfte, was eventuell fehlende Einnahmen mehr als ausgleichen konnte.

Zweitens war der jüdischen Hausarzt, geschult in Homöopathie-Anwendungen, nicht mehr greifbar. Der Erzengel Raphael gilt mythologisch-religionsgeschichtlich als der Überbringer der "Medizin Gottes" (angelus Rafahel, qui dicitur medicina dei).

Und drittens bekamen meine Großeltern eine Immobilie als vermeintlich günstige Gelegenheit zum käuflichen Erwerb angeboten. Das Stichwort war hier "Arisierung". Meine Familie sagte in dieser Angelegenheit schließlich klar und deutlich "NEIN!" — Ich vermute stark, dass dieses entschiedene "NEIN!" auf meine Großmutter Anna und ihren ethischen Kompass plus ihre Einschätzung der Lage zurückgegangen sein dürfte.

Dazu stellen sich mir persönlich aus heutiger Sicht zwei Fragen:

Wie kommt es, dass ich beim Sichtbarwerden der wohl größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte gegen die Kontinuität des Bions, gegen das Lebende der Biosphäre des Planeten schlechthin, ab dem Jahr 2020, so verhalten und still geblieben bin, nur weil sich die Kontinuität des eigenen Alltags, auch ökonomisch, irgendwie wieder einstellte und einrenkte?

Wie kommt es, dass ich erst im Augenblick, als mir eine vermeintlich günstige Gelegenheit ab 2021 aufgezwungen und verabreicht werden sollte, ich hier – ganz der Familientradition folgend – ganz entschieden "NEIN!" sagte? – Vielleicht weil ich recht schnell erkannte, dass hier nicht der Erzengel Raphael unterwegs war…

Als ab Juni 1945 aufgrund der Beneš-Dekrete die Vertreibungen jener Bevölkerungsteile mit dem deutschen Staatsbürgerausweis losgingen, wurden Karl und Anna Polzer wie Tiere in Güterwagen abtransportiert, zwangsweises Verlassen des Landes innerhalb von 24 Stunden, alles außer einem Koffer musste zurückgelassen werden. Die beiden Söhne waren da in Kriegsgefangenschaft: Kurt in Russland, Erhard in Schleswig-Holstein.

In dieser Deklassierung des Menschen zu Tieren, war für die Deklassierung der tierischen Kreatur zum Sachding schlicht kein Platz mehr. Statt Schnucki mit Tritten auf die Straße zu treiben und zwangsweise für ihn zu verschwinden, war noch die Zeit, einen Tierarzt aufzusuchen, und ihn Schnucki euthanasieren zu lassen. Diese konkrete Schuld an der Kreatur kommt noch oben drauf.

Meine Olmützer Familie: Großeltern Anna (1899 - 1979) und Fotografenmeister Karl Polzer (1890 - 1955, vorne), mein Onkel Kurt Polzer (1923 - 1990, rechts) und mein Vater Erhard Polzer (1926 - 1999, links); ca. 1939 – Aufnahme: Familienarchiv Joachim Polzer

Der Enkelsprung meiner Großmutter Anna auf mich ist mir an drei Faktoren ablesbar: Erstens das praktisch Zupackende, wenn es um das Kümmern bei Projekten, das Durchführen, Erledigen, Verwalten oder Betreuen geht – oder den Umgang mit Kunden. Zweitens, das Urvertrauen in die Wirksamkeit der "Medizin Gottes", die Homöopathie. Drittens, das Abtragen von Schuld gegenüber Hunden und die große Liebe zu ihnen.

+++

Olmütz – Wikipedia

Read more